Der vermutlich größte Brocken der ESA-Ministerratskonferenz 2025 wirft vorsichtig seine Schatten voraus
Am 20. November konnte man live studieren, was im Wortsinne unter einem „sneak preview“ zu verstehen ist: Nur wenige Stunden lang veröffentlichte die ESA an dem Tag das Ausschreibungsdokument für einen offenen Wettbewerb um eine wiederverwendbare neue europäische Rakete mit 60 Tonnen Kapazität auf LEO im Rahmen der „60T LEO Reusable Launch System Pathfinder Initiative“. Laut der Ausschreibung ist ein Trägersystem dieser Art notwendig, um den kritischen europäischen Bedarf an Weltraumforschung jenseits des LEO zu decken und gleichzeitig ein breiteres Potenzial für die Nutzung des Weltraums zu schaffen, um den wachsenden Marktchancen, beispielsweise mit Megakonstellationen gerecht zu werden.
Gegenüber dem Magazin European Spaceflight bestätigte die Agentur, die Initiative werde weiterhin verfolgt. Allerdings sei der Aufruf vorzeitig veröffentlicht worden, bevor er die üblichen Schritte der Autorisierung durchlaufen habe.
Die Ausschreibung basiert auf einer Machbarkeitsstudie der ESA, der „PROTEIN-Initiative (Preparatory Activities for European Heavy Lift Launcher“) mit dem Ziel, die Machbarkeit der Entwicklung einer europäischen Super-Heavy-Lift-Rakete mit Schwerpunkt auf der Senkung der Startkosten zu untersuchen.
ArianeGroup und die Rocket Factory Augsburg wurden für die Studien ausgewählt, wobei beide teilweise (ArianeGroup) oder vollständig wiederverwendbare Lösungen vorschlagen. Anfang dieses Monats veröffentlichte die ESA die Ergebnisse der beiden Studien und kam zu dem Schluss, dass die Entwicklung einer europäischen Super-Heavy-Lift-Rakete „prinzipiell möglich“ sei (https://esamultimedia.esa.int/docs/STS/Executive_Summary/PTN-TN-1000000-X-0003-AGS_ExSum.pdf). Die Agentur räumte jedoch ein, dass dies eine „Herausforderung“ darstellen würde.
Die europäische „60T LEO Reusable Launch System Pathfinder-Initiative“ verfolgt mehrere Ziele, um die Grundlagen für ein zukünftiges europäisches wiederverwendbares Trägersystem zu schaffen. Dazu gehören die Ermittlung und Konsolidierung von End-to-End-Missions- und Systemanforderungen, die Identifizierung kritischer und grundlegender Technologien, die Ausarbeitung von Modellen für die öffentlich-private Risikoteilung und die Entwicklung eines detaillierten Pathfinder-Plans. Es wird erwartet, dass das Projekt eine Reihe von Schlüsselergebnissen liefert, darunter konsolidierte Anforderungen auf hoher Ebene, einen industriellen End-to-End-Entwurf für ein Frühstartsystem, einen umfassenden Entwicklungsfahrplan und einen programmatischen Gesamtplan.
Wenn, wie derzeit offenbar beabsichtigt, der detailliertere Plan Teil eines Vorschlags sein soll, der den Mitgliedstaaten auf der nächsten ESA-Ministerratstagung Ende 2025 vorgelegt wird, dann dürfte es sich bei diesem Projekt mit Zielhorizont 2035 um den mit Abstand größten Budget-Brocken der ganzen MK handeln, der es zudem auch über die längste Realisierungsdauer bleiben wird. Denn die Konkurrenz ist ja jetzt schon da, wo Europa in frühestens zehn Jahren sein will. Zwei Trägersysteme schaffen bereits die 60 Tonnen oder mehr auf LEO, die Falcon Heavy von SpaceX und das Space Launch System (SLS) der NASA. Die New Glenn von Blue Origin, die in Kürze auf den Markt kommen soll, wird bis zu 45 Tonnen in den LEO bringen können. Das Starship von SpaceX, das sich derzeit in der Testphase befindet, soll gar mehr als 100 Tonnen befördern.
Bis Europa also den heutigen Status der Konkurrenz eingeholt hat, dürfte diese schon wieder weit enteilt sein. Der Schatten der geplanten Neuentwicklung wird sich damit auf die nächsten Jahrzehnte legen, wenn alles wieder so läuft wie immer schon.
Um diese Erkenntnis nur langsam dämmern statt schnell einschlagen zu lassen, sind „sneak previews“ sicher hilfreich – ob nun zufällig oder nicht.
Quellen u.a.: https://esamultimedia.esa.int/docs/STS/Executive_Summary/PTN-TN-1000000-X-0003-AGS_ExSum.pdf
https://advanced-television.com/2024/11/25/esa-wants-diversification-for-launches/