Nur einen Aufschlag brauchte Deutschlands erste Adresse der Industrierepräsentanzen mit dem BDI-Weltraumkongress, um sich schon bei dessen zweiter Ausgabe der Meinungsführerschaft in Zukunftsfragen des Themenkomplexes „Raumfahrt – Industrie – Zukunft“ sicher sein zu können. Dafür mag es viele Gründe geben, und speziell an diesem einen gab es bisher keinen Dissens: der Verbindung von Niveau und Substanz. Für beides steht auch die Studie, die der BDI zusammen mit Roland Berger der Diskussion zur Seite stellte:
“Space-enabled Germany: Why space is crucial to Germany´s economic competitiveness, sovereignty, and sustainability goals”.
Raumfahrt, so die einleitende Feststellung, ist weit mehr als Raketen und Satelliten; sie schafft raumgestützte Technologien für bestehende Märkte wie Com, NAV, EO und Meteo, parallel aber auch für neue wie IoT und Smart Devices, und sichert zudem die Unabhängigkeit und Robustheit von Gesellschaften und ihren terrestrischen Infrastrukturen durch raumgestützte Ergänzungs- und Verstärkungstechnologien.
Der Faktor Raumtransport
Das weltweite Marktwachstum prognostiziert die Studie mit einem Aufwuchs von 320 Milliarden 2021 bis 1,25 Billionen in 2040 – eine Entwicklung, deren Tempo stark von den erwarteten Preisrückgängen im Raumtransport abhängig ist.
Hier führt im Vergleich der Transportkosten auf LEO Starship bei weitem das ganze Feld ab etwa 2025 mit Kosten von deutlich eher 100 als 1000 Dollar/Kilo vor Falcon Heavy (gut 1000), der neuen RFA One, Falcon9 und Ariane 6 sowie auch noch SL-1 von HyImpulse und Spectrum von Isar Aerospace mit Kosten unter grob 10.000. Über dieser Messlatte liegen dann noch Vega und Electron (Rocketlab), wobei einige von den teureren im Markt noch gar nicht angekommen sind. Zur Erläuterung: Diese Zahlen lassen sich aus der entsprechenden Grafik der Studie grob herauslesen, aber es gibt auch Widersprüche, etwa zu Elon Musk selber, der 2022 (vgl. futurism.com/elon-musk-starship-launch-1-million und außerdem George Dvorsky, The Definite Guide to Space X´s Startship Megarocket, 12.01.2024, auf GIZMODO; für das Kilo mit Starship auf LEO umgerechnet nur noch 10 Dollar Kosten vorhersagte; ebenso unpräzise können auch andere Darstellungsdetails und Lesarten der Grafik sein, hier geht es nur um den Trend) Wie auch immer: letztlich wichtig ist die Feststellung, dass sich dieser Markt in hoch dynamischer Entwicklung befindet und die Preise für Transportleistungen nur eine Richtung kennen: mehr oder weniger steil nach unten.
Motor der Industrie
Deutschland hätte viele Chancen, raumgestützte Lösungen breitflächig zu nutzen und damit terrestrische Industrien und Infrastrukturen zu beflügeln bzw. zu modernisieren. Treiber sind dabei Landwirtschaft (+771%), Automotive (+204 %), Konsum, Tourismus und Gesundheit (+575%), Infrastruktur und Transport (+78%). Darin enthalten ist naturgemäß nur das, was man jetzt schon identifiziert hat und „kennt“. Dass die Entdeckung von weit darüber hinaus reichenden Anwendungstechnologien und -zwecken dieses Gefüge durchaus mit noch ganz anderen Steigerungsraten durchrütteln kann, steht auf einem anderen Blatt und hängt noch mehr als die lineare Entwicklung des Bekannten von Kenntnis, Fähigkeit, Einsicht, Willen und Mut und Engagement derer ab, die die Kompetenz und die Macht haben, Prioritäten richtig zu setzen und wirklich wichtige Dinge für das ganze Land voranzutreiben.
Vergleich 1: Öffentliches Investment
Und da wird es schon enger: Der Blick auf die Investment-Raten macht überdeutlich, dass hierzulande mit öffentlichem Invest von 0,06% des BIP im Vergleich zu den USA (0,24%, 4-fach über dem deutschen in relativer und vielfach in absoluter Betrachtung) und Frankreich (0,15%, 2,5-fach über dem deutschen) reichlich Luft nach oben bleibt – während neue Spieler wie Spanien, die Vereinten Arabischen Emirate und Neuseeland laufend hinzukommen und ihre Entschlossenheit, hier mitzuspielen, auch mit der Gründung eigener RF-Agenturen untermauern.
Vergleich 2: Privates Investment
Wer Besseres bei den privaten Investments erwartet, wird enttäuscht: In fast zehn Jahren bis 2022 entfielen hier gesamt nur 900 Millionen Euro auf lediglich 31 private Investments, in Frankreich dagegen schon 1,3 Milliarden auf 43, in China 62,2 Milliarden auf 48 und in den USA 73 Milliarden auf 506 Vorhaben. Der Vollständigkeit halber seien noch die Summen von 7,3 Milliarden Dollar Privatinvest in indische Projekte und 13,4 Milliarden Dollar für Raumfahrtvorhaben in Singapur erwähnt.
Barrieren breitbandiger Nutzung
Das Studienteam kommt zu dem Schluss, dass Deutschland eben nicht zu den durch Raumfahrttechnologie wahrhaft breitbandig beflügelten Wirtschaftsnationen der Welt gehört und sieht vor allem die Überwindung der Kluft zwischen dem Raumfahrt- und dem Nicht-Raumfahrtsektor als eine zentrale Herausforderung für Deutschland, um das Potenzial weltraumgestützter Lösungen voll auszuschöpfen. Als Herausforderungen werden unter anderem gesehen:
- Fehlendes Bewusstsein in Nicht-RF-Sektoren über mögliche Vorteile raumgestützter Lösungen: nur etwa die Hälfte (52%) der Repräsentanten klassischer Industrien kann mit dem Thema etwas anfangen.
Und das zu ändern würde allein nicht viel nutzen:
- 78% beklagen, dass talentierte und genügend (aus-)gebildete Mitarbeiter hierzulande nicht zu bekommen sind, welche fähig wären, weltraumgestützte Lösungen für den Einsatz in ihrem Arbeitsbereich zu erschließen. Denn dies erfordert Spezialisten oder doch eben mindestens aufgeschlossene und trainierbare Talente, welche die riesigen Informationsströme von Satelliten filtern, entschlüsseln und für ihre spezifischen Wertschöpfungssektoren in verwertbare Informationen wandeln oder doch mindestens dies zu tun lernen könnten.
- Die Verknüpfung von Raumfahrt- und Nicht-Raumfahrtsektoren erfordert präzise, branchenspezifische Lösungen. Noch aber dominiert die Vorstellung eines „one-size-fits-all“-Ansatzes. Allgemeine „Einheitslösungen“ sind aber oft unwirksam, da die RF-Unternehmen nur über begrenztes Fachwissen in ihren Zielbranchen verfügen.
Alle drei vorgenannten Punkte könnten – das sieht die Studie auch so – mit besonderen Anstrengungen zur Qualifizierung und Wissensbildung einer Lösung der Problematik zumindest nähergebracht werden. Und wo dies nicht möglich ist, wäre es noch über die Auslagerung der Aufgabe an spezialisierte Firmen nachzudenken wert.
Zwei Interpretationen von Kontinuität: Deutschland und Frankreich
Das alles macht aber keinen Sinn, solange an entscheidenden Stellen der Industriekreise das Misstrauen in die politischen Ambitionen und die Souveränität Deutschlands und Europas in Sachen Raumfahrt so ausgeprägt ist, dass in der Nutzung raumgestützter Lösungen in industriellen (Nicht-RF-) Sektoren Gefahren der Anfälligkeit aufgrund unzureichender Investitionen in eine nicht ausreichend robuste Weltrauminfrastruktur vermutet werden.
Woher kommt dieses Misstrauen? Hier könnten die Zahlen des institutionellen Investments in die deutsche Raumfahrt den Weg zur Wurzel weisen. Nimmt man die aktuelle Summe des nationalen Raumfahrtprogramms von 333,4 Millionen Euro für 83,2 Millionen Menschen im Land hinzu, bleibt es bei rund 1 Cent Investition pro Person und Tag in die Technik, die eine der wichtigsten Grundlagen der wirtschaftlichen Zukunft eben dieser Person darstellt. Knapper mehr als nichts geht nicht. Nun blicke man fast ein Vierteljahrhundert zurück: am nationalen Teil des Raumfahrtprogramms 2000 prangt das Preisschild von rund 500 Mio DM (inklusive DLR-Finanzierung), entsprechend 255 Millionen Euro. Kurz durch den Kaufkraftrechner der Deutschen Bundesbank gedreht, und man erkennt: das wären heute rund 323 Millionen Euro. Unter Vernachlässigung der aktuellen Differenz von nur 10 Mio also der Betrag, den die nationale Raumfahrt der Bundespolitik zum Übergang vom letzten in dieses Jahrhundert noch wert war. Es hat sich netto nichts geändert: deutsche Budgetplanung für die nationale Raumfahrt findet seit Ewigkeiten am bzw. kurz hinterm Ereignishorizont eines Schwarzen Loches statt – dort, wo auch die Zeit stillsteht. Streng genommen also eine extreme Form von Beständigkeit.
Eine völlig andere Interpretation von Kontinuität, so zeigt die Studie, legt an der Stelle Frankreich vor: das 54 Milliarden Euro schwere Programm „Frankreich 2030“ enthält allein für den Raumfahrtsektor 1,5 Milliarden Euro für spezielle Anstrengungen zur Förderung raumgestützter Anwendungen in Nicht-RF-Industrien. Zentrale Bedeutung haben dabei
- Anschubfinanzierungen immer wieder neu eingeforderter Projektideen zur Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Industrie durch RF-Dienstleistungen und RF-Infrastruktur,
- Ein klares Ziel, nämlich die Verdoppelung der Zahl der (öffentlichen und privaten) Organisationen, die weltraumgestützte Lösungen für ihre Aktivitäten nutzen (was zu einer Gesamtzahl von 400 Organisationen führen soll, verglichen mit den 200, die es derzeit im Land gibt)
- Investitionen in Satellitenkonstellationstechnologien zur Entwicklung weltraumgestützter Lösungen, die den Bedürfnissen der nationalen Industrie entsprechen
- Die Strategie, sowohl in das Engagement etablierter als auch das von NewSpace-Unternehmen zu investieren.
Jetzt geht es, so die Studie, um die Nutzung aller Chancen aufzuholen, die Potentiale der Raumfahrt nachhaltig für die Nicht-RF-Industrien zu erschließen und diese damit selbst auf das nächste Level der Wettbewerbsfähigkeit zu heben. Denn nur um Raumfahrt selbst geht es schon lange nicht mehr.
Quelle: Weltraumbeflügeltes Deutschland