Invictus: ESAs Hoffnungsträger

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Invictus: ESA´s Hoffnungsträger

Die amerikanische Space Foundation verkündete jüngst ein Zahlenwerk, von dem man annehmen sollte, dass es auch den Schläfrigsten zumindest zeitweise aufzuschrecken geeignet ist. Mit 7,8% Marktwachstum erreichte die globale Raumfahrt eine neue Bestmarke im rückblickenden Dreijahres-Vergleich. Die dabei erreichte Schallgrenze von 613 Milliarden Dollar soll, so prognostiziert der Bericht, bis 2023 auf eine Billion Dollar ansteigen können. Bemerkenswerte 78 Prozent entfielen dabei auf den privaten Sektor, während die staatlichen Aufwendungen „nur“ um 6,7% auf 132 Milliarden Dollar stiegen. Davon wiederum wandten die Amerikaner den Löwenanteil in Höhe von 77 Milliarden Dollar auf.

Auch der Startmarkt ist klar in US-amerikanischer Hand – der Hand von SpaceX. Alle 28 Stunden startete 2024 eine Rakete zu erfolgreicher Mission, im Jahr zuvor lag der Schnitt bei 34 Starts. 81 und damit gut 54 Prozent von 149 Starts gesamt entfielen auf SpaceX. Europa brachte es derweil auf ganze zwei und überwand damit immerhin die Ein-Prozent-Hürde um mikroskopische 0,34%, aber blieb so 2024 noch knapp vor dem Senegal, zumal der sich noch „seine“ Rakete bei Elon Musk in Kalifornien ausleihen musste.

Die Startressourcen sind es, nach denen sich der Grad der Souveränität in der Raumfahrt bemisst – und an der Stelle avanciert Europa nicht gerade zum Vorzeigekandidaten: Neben dem äußerst limitierten Angebot durch die wettbewerbsunfähige Ariane 6 und eine outgesourcte Vega C gibt es derzeit nur Hoffnungsträger in statu nascendi, und auch diese nur für relativ kleine Nutzlasten. In krassem Gegensatz dazu stehen die hochfliegenden Konstellationsambitionen der Europäer, ob nun in gemeinsamen oder auch nationalen Projekten, und oft genug auch die irreführende Berichterstattung darüber, die wie selbstverständlich bei der Projektbeschreibung eigene Startkapazitäten ad libitum voraussetzt. Die für ihren feinsinnigen und bildstarken Sarkasmus bekannten Texaner haben da einen besonderen Ausdruck: „He´s all hat and no cattle.“ Trifft das nun auch auf Europa in der Raumfahrt zu? Die Antwort lautet: Ja, die Gefahr besteht und ist sehr real – und nein, so weit ist es noch nicht, denn Europa arbeitet nicht nur an der Stabilisierung der konventionellen Kapazitäten, sondern öffnet nun auch das Tor zur Raumfahrt der Zukunft. Der Schlüssel dafür steckt in einem einzigen Wort:

Invictus – unbesiegbar.

Auf der rational-technischen Oberfläche handelt es sich um den Namen eines horizontal startenden wie landenden Hyperschall-Raumflugzeugs, dessen Entwicklung die ESA mit Nachdruck unterstützt, bis es, so die große Hoffnung, 2031 tatsächlich zum Flug ins All von einer beliebigen Startpiste aus abhebt. Es sind zwar zur Zeit nur sieben Millionen Euro – also quasi aus der Portokasse – , die in die Entwicklung des Konzeptes fließen. Dafür aber soll schon 2026 die Machbarkeit eindeutig feststehen. Die zentrale Herausforderung besteht darin, kostengünstige Triebwerke zu bauen, die sowohl für den Luft- als auch für den Raumflug geeignet sind. Herkömmliche Düsentriebwerke benötigen Sauerstoff für die Verbrennung, den sie aus der Luft beziehen. Um jedoch die für den Austritt aus der Umlaufbahn erforderlichen Geschwindigkeiten zu erreichen, also Hyperschallgeschwindigkeiten jenseits Mach 5 und damit 6.174 km/h, würde die enorme Hitze der Luftreibung, die auf das Triebwerk trifft, dieses tatsächlich zum Schmelzen bringen.

Die britische Reaction Engines Ltd. verfolgte bis zu ihrem Konkurs 2024 das Ziel, die Lufttemperatur zu senken, bevor sie auf den Motor trifft, ein Prozess, der als Vorkühlung bezeichnet wird. Mit diesem System sollten theoretisch sogar herkömmliche Düsentriebwerke Geschwindigkeiten von über 15.000 mph erreichen können, genug, um in nur wenigen Stunden jeden Ort der Welt zu erreichen. Wenn das Flugzeug dann die Atmosphäre verlässt und in den Weltraum vordringt, würden die Triebwerke auf die Sauerstofftanks an Bord umschalten. Wenn alles funktioniert, sollte es möglich sein, Fracht zu deutlich geringeren Kosten als mit den derzeitigen Systemen in den Weltraum und mit viel höherer Geschwindigkeit an andere Orte auf der Erde zu transportieren. Das Programm wird heute von Frazer-Nash Consultancy geleitet und von Spirit AeroSystems, der Cranfield University und einigen kleineren Unternehmen unterstützt. Wichtig für den Einstieg der ESA ist, dass das Projekt eine Reihe von zentral wichtigen Mitarbeitern von Reaction Engines Ltd eingestellt hat, die sich weit zur Lösung der technischen Rätsel vorgearbeitet haben. Die sieben Millionen der ESA sollen nun helfen, binnen 12 Monaten die Machbarkeit so zu untermauern, dass der Schritt in die dann naturgemäß weitaus kostspieligere Realisierung des Fliegers bis zum Erststart 2031 unternommen werden kann.

Weltweit gibt es ähnliche Projekte:

  • Das Start-up-Unternehmen Sierra Space arbeitet seit 2015 an seinem Dream Chaser-Design, das kurz davor steht, zur ISS fliegen zu können.
  • China hat seit 2023 bereits mehrere Flüge mit dem Shenlong durchgeführt.
  • Die US-Weltraumstreitkräfte fliegen seit 2010 das ferngesteuerte X-37B, ein Programm, das gerade 1 Milliarde Dollar aus der Big Beautiful Bill erhalten hat
  • Das erfolgreich und dabei doch immer hanseatisch-bescheiden voranschreitende Bremer Unternehmen POLARIS bietet gleich ein ganzes Portfolio an Raumflug-geeigneten Trägern und Plattformen.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Projekten insbesondere von amerikanischen Startups, sich etwa mit Hilfe von horizontalen Startschlitten – hier grüßt der Sänger der Neunziger alle seine Verhinderer – oder mit mächtigen Zentrifugalschleudern von der letztlich in vielerlei Hinsicht unökonomischen Raketentechnik zu lösen.

All diese Projekte sind experimentell und noch nicht aktiv im Einsatz. Die ESA kommt mit ihrem Antritt also genau zur richtigen Zeit, um jetzt nicht nur wieder in die Rücklichter der Raumvehikel der anderen zu blicken. Zu hoffen bleibt nicht nur, dass das Projekt die konzeptionelle Prüfungshürde 2026 nimmt, sondern auch danach dann mit allen nötigen Mitteln ausgestattet, wirklich bis zur Realisierung vorangetrieben wird und vor allem: allein in der Hand der ESA verbleibt. Denn schon das enorme Potential eines von beliebiger Piste aus startfähigen Hyperschall-Raumfliegers für die hoch mobile Dezentralisierung und damit effektivste Form der Sicherung militärischer Kerninfrastruktur ist im Zweifel dringend überlebenswichtig; diese Technik ist kein Spielzeug und gehört damit definitiv ausschließlich in fachkundige Obhut der ESA als einziger zentraler gesamteuropäischer Kompetenzadresse. Denn wenigstens eines ist ganz einfach – der Name des Projektes ist Programm und soll es auch bleiben:

Invictus.

Quellen u.a.: https://www.esa.int/Enabling_Support/Space_Engineering_Technology/Shaping_the_Future/INVICTUS_Europe_s_new_hypersonic_test_platform

 https://www.jalopnik.com/1919579/european-space-agency-building-hypersonic-spaceplane/

https://www.esa.int/Enabling_Support/Space_Engineering_Technology/Shaping_the_Future/INVICTUS_Europe_s_new_hypersonic_test_platform