Analyse und Kommentar
Auf den ersten Blick nahm sich die Pressemitteilung der DEFIS Ende letzter Woche zur neuesten Entwicklung bei IRIS2 doch erwartbar langweilig, weil so überraschungsbefreit wie der Ausgang von Präsidentschaftswahlen in Russland aus: „IRIS² – the European Commission awards the concession contract to SpaceRISE consortium“, heißt es da. So what – das war doch schon erklärtes Ziel seit Jahren? Liest man weiter, gelingt den Textern der EU-Verlautbarung dann aber der Trick, gleichzeitig vor- und wieder zurückzurudern – also hier erst mal vor: “Following the completion of the evaluation of the optimised best-and-final offer (OBAFO) received on 3 September, the Commission awarded today to the SpaceRISE consortium the concession contract to develop, deploy and operate the Union’s secure connectivity satellite system: IRIS² (Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Security by Satellite)“ – und dann wieder zurück: “The procurement is now entering its final phase towards the signature of the concession agreement scheduled by December 2024, upon which the legal and financial commitment from both parties will be taken.”
Also was denn nun – doch kein Vertragsabschluss, nur die Verkündigung der Absicht beider Parteien, im Dezember zu unterschreiben, wenn alle rechtlichen und finanziellen Fragen geklärt sind? Zwar ist es richtig, dass eine Vertragszusage der Kommission schon direkt nach Evaluation des Angebotes gemacht werden kann, während die Unterschrift selbst dann viel später stattfinden darf. Aber in der Regel eben nur dann, wenn jetzt schon alle rechtlichen, finanziellen und administrativen Probleme zur Zufriedenheit beider Parteien gelöst sind. Davon ist man aber jetzt und vielleicht auch im Dezember noch weit entfernt, sonst hätte die Mitteilung selbst die gefundenen Lösungen nennen können. Was also soll die Verlautbarung zum derzeitigen Zeitpunkt?
Der Sinn ergibt sich aus den nachfolgenden Abschnitten, denn hier werden wesentliche Züge des Projektes ein für allemal festgezurrt. Zunächst wird die Konsortialhierarchie noch einmal auf den neuesten Stand gebracht, nachdem Thales und Airbus bekanntlich unter Verweis auf – jedenfalls für sie – untragbare finanzielle und technische Risiken ausgestiegen waren und sich stattdessen als Auftragnehmer empfohlen hatten: „The SpaceRISE consortium is composed of three European satellite network operators: SES SA, Eutelsat SA, and Hispasat S.A. The consortium relies on a Core Team of European subcontractors from all segments of the satcom ecosystem for the delivery of the scope of the concession contract: Thales Alenia Space, OHB, Airbus Defence and Space, Telespazio, Deutsche Telekom, Orange, Hisdesat and Thales SIX.“ Gut, damit wäre endlich geklärt, was alle, die es interessiert, seit Monaten eh schon wissen. Warum also dieser Tranquilizer-Text? Beim Weiterlesen wird klar: nur ein zuvor so sorgsam sedierter Leser schluckt im Halbschlaf die drei nachfolgend verabreichten bitteren Pillen. Pille 1: „The SpaceRISE offer includes appropriate mechanisms to ensure competitive subcontracting in the selection of its Supply Chain, in particular for SMEs, and stimulate innovation by promoting new entrants’ participation.”
Hier werden rein rhetorisch die Buzzbegriffe „KMU“ und „Innovation“ nach vorn gebracht, um sie nach Belieben in der Praxis dann auch gleich wieder einkassieren zu können. Kein KMU dabei? Selber schuld, da waren sie wohl nicht wettbewerbsfähig – was immer „wettbewerbsfähig“ auch hier bedeutet. (Zumindest wissen wir, dass tatsächlich schon KMU abgewunken haben, etwa weil ihr Geschäftsmodell es nicht vorsieht, wie gefordert Aufträge mit eigenem Geld zu finanzieren. Wenn das also eine Facette des „Wettbewerbs“ der KMU um Aufträge sein sollte, sollte man tatsächlich nicht mit allzu viel Bewegung auf dem Gebiet rechnen.) Keine Innovation im Programm? Tja, war eben nicht mehr drin. Alles weitere bleibt hier im Dunkeln, nur klar ist: Wer wettbewerbsfähig ist und welche Innovation ins Gefüge passt, entscheidet jetzt allein das Konsortium nach Maßgabe seiner eigenen „Selektionsmechanismen“. Dies ist das Gegenteil der ursprünglichen (und ebenso enttäuschten) Erwartung insbesondere der bayerischen, bundesdeutschen und italienischen Politik an Kommission, Programm und Konsortium, aber genau das, was die Kommission unter Breton schon immer wollte.
Pille 2: “The 12-year concession contract consists in a public-private partnership to acquire a system composed of over 290 satellites on various orbits and the associated ground segment to provide governmental services by 2030 while enabling commercial services. The concession contract will be funded by public (European Union and ESA) and private investments (the SpaceRISE consortium).”
Es klingt, als sei alles schon geregelt, dabei ist auch hier das Gegenteil der Fall:
- Ob und wieviel die ESA beitragen wird, ist noch (lange?) nicht geklärt; in Deutschland soll jetzt auch erst mal eine auf 18 Monate angelegte Studie klären, wozu man IRIS2 überhaupt braucht. Immerhin – das öffentlich zu fragen, hat sich in Europa außer Dr. Christmann sonst keiner getraut;
- die Wahrscheinlichkeit ist wohl eher gering einzuschätzen, dass die ESA in eigener Machtvollkommenheit jetzt aufgrund dieser Pressemitteilung von DEFIS die Freigabe der ARTES-Millionen verfügt, solange nicht dafür auch von Deutschland das OK vorliegt
- Der eigene Finanzbeitrag des Konsortiums wird laut Recherchen einer internationalen Fachpublikation mit 4 Milliarden Euro beziffert, aber in der DEFIS-Mitteilung selbst nicht in Worte gegossen, geschweige denn in Stein gemeißelt. Und das ist auch kein Wunder, denn bisher hat niemand endgültige Planzahlen auf den Tisch gelegt. Nur eines scheint sich abzuzeichnen: es wird teurer, als man sich jetzt vorstellt – und zwar ziemlich egal, wieviel man sich vorstellt.
Lediglich die EU-Kommission kann aus rechtlichen Gründen keine Zusage über den derzeitigen mittelfristigen Finanzrahmen – der reicht bis Dezember 2027 – hinaus machen. Damit kommt der Text zu Pille3: “Regarding the European Union’s contribution, as the duration of the concession contract spans across multiple financial perspectives, the European Commission will first proceed with a budgetary commitment for the current multiannual financial framework. Additional amounts may be awarded after 31 December 2027, subject inter alia to the adoption of a successor programme by the European Parliament and Council, and the availability of the corresponding appropriations.”
Im Klartext: Macht die EU schon drei Jahre vor Indienststellung der Konstellation ab Dezember 2027 nicht mehr mit, hat die Kommission mit dem Geld hauptsächlich anderer eine gigantische Baustelle im All geschaffen, die eben diese anderen – ESA, Mitgliedsländer und vielleicht auch die Industrie – entweder auf ihre Kosten entfernen oder aber tatsächlich betriebsfähig machen und halten dürfen. Letzteres würde dann auch die Pflicht zum regelmäßigen Ersatz aller Satelliten durch neue beinhalten, zu deren Produktion Thales und Airbus wieder bereitstehen könnten. (Das gilt natürlich nur, wenn die Konstellation tatsächlich aus 290 neuen Satelliten besteht, statt die „alten“ der drei Kern-Konsortialisten zu nutzen). Sollte Europa in dem Fall dann tatsächlich den Elon Musk geben wollen? Falsche Liga: da könnte es sich schnell verheben. Aber wenigstens die Kommission wäre in jedem Fall fein raus und hätte dann auch wieder genug Ressourcen frei, um sich neue Programme auszudenken.
Damit nähern wir uns der Erklärung, warum es aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt diese Mitteilung der DEFIS gab: Die Entscheidung für das Konsortium sollte in die Amtszeit der nächsten Kommission – geplanter Beginn: 1. November – hinübergerettet werden. Ohne den jetzt gefassten Beschluss und dessen Veröffentlichung noch in letzter Sekunde am 31. Oktober 2024 hätte IRIS2 mitsamt allen seinen bitteren Pillen auch sang- und klanglos auslaufen und bei Neuauflage ganz anders ausfallen können, als Breton – wie nun hier zementiert – es wollte. Breton, der Talleyrand französischer Industriepolitik, Großmeister der EU und Kommissar der Konzerne in Personalunion, er ist weg. Allein sein letzter (Gestaltungs-)Wille wird über das Erbe namens IRIS2 die ganze Kontinentalverwaltung mitsamt ihrer Präsidentin in einem wesentlichen Bereich noch viele Jahre fernsteuern.
Die Vorstellung dürfte ihm gefallen.
Quelle: IRIS² – the European Commission awards the concession contract to SpaceRISE consortium