Klartext Raumfahrt

Nihil fit sine causa

Raumfahrt im Rechtsstaat: Alle Macht dem Wort

Goldwaage
© Pixabay

Als „Gruppe“ von der Goldwaage fiel

Für einen kurzen Moment der Atemlosigkeit brachte der russische Überfall auf die Ukraine 2022 die Welt zum scheinbaren Stillstand, währenddessen die Länder der Erde nach ihrer eigenen wie auch ihrer gemeinsamen Antwort suchten. In Deutschland war sie schnell gefunden: das BMVg schickte freundliche Grüße und 5.000 Helme und das BMZ einen „Bürokratiebeauftragten“, wie die WELT am 10.06.2022 bissig titelte: Schwere Waffen? Wir schicken lieber einen Bürokratie-Sonderbeauftragten. 

Wie hinreichend bekannt, ist es dabei nicht geblieben, im Gegenteil: Umfang und Qualität der aus Deutschland gelieferten Waffen haben Dimensionen erreicht, welche zeitlebens Frieden gewohnten Generationen astronomisch und den Angreifern, gegen die sie eingesetzt werden, apokalyptisch erscheinen müssen. Und vor eben diesem Hintergrundgetöse all der Granaten, Panzer, Drohnen, Bomben, Raketen und MGs werkelt seither der 2022 erneut berufene „Sonderbeauftragte der Bundesregierung“ unverdrossen an Instrumenten und Methoden zur Verwaltungsmodernisierung der Ukraine. 

So verblüffend es klingen mag, so real ist es doch: Jenseits aller verurteilungswürdigen Exzesse von Bürokratie gestalten diese Aktivitäten die zivile Rückseite einer Entwicklung der Ukraine hin zum Westen, in die sie frontseitig von Raub, Mord und Zerstörung getrieben wird. Ihre zentrale Leistung: Sie schaffen Verständigung über eine gemeinsame Sprache, für die das Recht das Gerüst und das Wort das Werkzeug ist.

Gruppe – ein Wort von Gewicht

Und nicht nur das, sondern bei Bedarf auch eine scharfe Waffe, wie ein aktuelles Beispiel aus dem europäischen Raumfahrtbetrieb zeigt. So kam es dazu, dass sich in diesen Tagen an einem einzigen Wort, dem wohl niemand auf Anhieb die von ihm ausgehende Gefahr ansehen würde, heftigster Unmut entzündete – genau genommen noch nicht einmal an dem Wort, vielmehr an seiner plötzlichen Abwesenheit und deren verwaltungsrelevanten Konsequenzen.  Doch von Anfang an.

Die europäische Raumfahrt hat sich über ihre gemeinsame Organisation der ESA ein äußerst eng geflochtenes Netz, manch´ unbedarfter Branchenfremdling mag es auch eher „Dickicht“ nennen, von Begriffen und ihren ganz speziellen Bedeutungen gesponnen, sodass für das Lesen und Anwenden von Vorschriften und Vereinbarungen stetes Wiegen aller Worte auf der Goldwaage zum Standard des Umgangs miteinander gehört. Ausgerechnet in der Vorbereitung zu Auftragsvergaben im ersten Quartal 2024 passierte es dann: ein wichtiges Wort fiel von der Waage – oder wurde es gar gestoßen? – und war dann seither verschwunden.

Worum es ging: Zwei neue Sentinel Satelliten, randvoll mit HighTech gepackt. Wie die Sentinel-1-Satelliten der ersten Generation wird Sentinel-1 Next Generation für die Tag- und Nacht-Überwachung von Land, Eis und Ozeanen sowie für Notfallmanagementdienste eingesetzt und zielt auf leistungsstärkere Anwendungen im Zusammenhang mit Bodenfeuchtigkeit, Landbedeckungskartierung, Unterscheidung von Pflanzentyp und -zustand, Waldtyp und Waldbedeckung, Lebensmittelsicherheit und Präzisionslandwirtschaft, Meeresüberwachung, natürliche und anthropogene Gefahren sowie die operative Überwachung der Kryosphäre und der Polarregionen einschließlich automatischer Meereiskartierung und Landeisüberwachung. Um diese Missionsziele erfüllen zu können, benötigt das Raumsegment mehr als einen Satelliten. Die Nutzlast wird auf einem Radar mit synthetischer Apertur (SAR) im C-Band basieren und, wie bei Sentinel-1C und -1D, ein Instrument zur automatischen Schiffsidentifizierung (AIS) enthalten, das von den Endnutzern benötigt wird, um die Erreichung der maritimen Ziele der Mission zu unterstützen. Das Ganze hat ein Auftragsvolumen von 400 Millionen Euro für den Zeitraum 2024 bis 2034.

Mit der Goldwaage gemessen: 100 Millionen machen den Unterschied

In diesem Trubel purzelte nun das kleine Wort „Gruppe“ von der Goldwaage und ward´ fortan nicht mehr gesichtet – seine Abwesenheit aber wurde schnell und genau registriert. Denn es hätte prominent stehen müssen als Appendix zum Begriff „LSI“; bis dato unterschied die ESA-(Begriffs-)Welt LSI (die großen Raumfahrtkonzerne), LSI-Gruppen (die Konzerne zusammen mit ihren von ihnen abhängigen Tochterunternehmen), KMU und unabhängige Midcaps (größer als KMU, kleiner als LSI).

Bei den Kopernikus-Beschaffungen HPCM und folgenden wie etwa E3P wurde, wie bei der ESA seit 2019 üblich, der Begriff der LSI-Gruppe protektiv zugunsten der KMU und Midcaps verwendet, was tatsächlich zu einer  – wie auch wirtschaftspolitisch gewünscht – höheren Beteiligung der Kleineren führte. Doch plötzlich ist jetzt bei den Begriffsbestimmungen keine Rede mehr von LSI-Gruppen. Die Dokumente, darunter das ESAIPC 122 von 2023 im Definitionsappendix Nummer 1, sehen nur die namentlich bekannten KMU und LSI und den Rest als „Non-LSI“ vor. Das bedeutet, dass LSI zusammen mit Töchtern – vormals also eine LSI-Gruppe – nun doch bis zu 95 Prozent des Auftragsvolumens zugeschlagen bekommen könnten; sie müssen nur getrennt marschieren und vereint zuschlagen. Und das, obwohl auf der anderen Seite die Verteilung dieses kalorienreichen Kuchens klar konträr geregelt scheint:

  • Maximal 55 % für das Prime-Konsortium

  • Maximal 75 % für alle LSI Gruppen zusammen

  • Minimum 10 % für KMU

  • (bei Missionen mit Geo-Return: mindestens 20 % des deutschen Returns an deutsche KMU)

  Kompromissweise stehen im Raum:

  • Maximal 70 % für alle LSI Gruppen zusammen

  • 30 % für Midcaps und KMU,

  • Minimum 10 % für KMU

Die Goldwaage für wichtige Worte wird bei Kopernikus Sentinel 1 der zweiten Generation in den kommenden Tagen und Wochen unter strengste Aufsicht der KMU und unabhängiger Midcaps im Verbund mit den entsprechenden Verwaltungsebenen bei ESA und DLR gestellt. Zu teuer wäre ein erneuter Verlust des Wörtchens „Gruppe“, wo es doch schon so viel Mühe gekostet hat, es zu wiederzufinden und zurück ins Schälchen zu legen. 95 oder 70 Prozent? Der Unterschied beträgt genau 100 Millionen – mit der Goldwaage gemessen.

Ми над цим працюємо

Die Bemühungen des deutschen Sonderbeauftragten für die Modernisierung der ukrainischen Verwaltung sind umfassend und werden automatisch auch Schritte zur verwaltungstechnischen Ertüchtigung der Technik-Elite des Landes für den erneuten Anschluss an die von der Ukraine schon zuvor stark unterstützten Raumfahrtaktivitäten Westeuropas beinhalten, schon ohne dass es derzeit spezieller Raumfahrtbezüge bedarf. Unter den gegebenen Umständen, dieser täglichen Bedrohung und Vernichtung von Leben der Menschen einer Nation, die nichts anderes wollen als dies: LEBEN! –  mag deren Kommentar zur Aufregung um den zeitweisen Verlust eines einzigen Wortes gerne lauten: Ми хочемо мати ваші проблеми (My khochemo maty vashi problemy) / Eure Sorgen möchten wir haben. Die Antwort fällt leicht: Ми над цим працюємо (My nad tsym pratsyuyemo):  Wir arbeiten daran.